Liebe Leserinnen, liebe Leser!
Kann man in diesem Jahr, in dieser Situation einfach so Ostern feiern?
Können wir so mir nichts, dir nichts ein österliches Halleluja anstimmen, so, als ob es all das um uns herum nicht gibt:
Nein, das kann man nicht. Das geht nicht. Das passt nicht.
Also:
Ostern absagen? Ostern verschieben auf eine Zeit, in der alles wieder so ist, wie wir es uns wünschen? Frühlingsidylle. Schneeschmelze. Quirlig sprudelnes Bächlein vorbeiströmend an frischem treibendem Grün. Friedvolle Stimmung vor und hinter der Haustüre.
Auch das geht nicht. Das geht vor allem nicht, wenn wir tatsächlich Ostern feiern. Ostern beginnt im Tohuwabohu des Schöpfungsmorgens, in dem Augenblick, da alles noch wüst und wirr war und Finsternis über der Urflut lag.
Ostern entspringt dem Auszug des Volkes Israels aus Ägypten, der Flucht aus Knechtschaft und Unterdrückung, dem Risiko von den Ägyptern mit all ihren Reitern und Wagen eingeholt und abgefangen zu werden.
Ostern ist das neue Kapitel im Lebensbuch des Jesus von Nazareth, angefügt an die Tragödie des Karfreitags verfasst und geschrieben von keinem Geringeren als dem Gott des Lebens.
Wer ahnt am ersten Schöpfungstag, dass am Ende alles gut, ja sogar sehr gut wird?
Wer ahnt angekommen am Ufer des Meeres, dass das Wasser für Gottes auserwähltes Volk Spalier steht und der Weg letztlich frei ist für ein Leben in Selbstbestimmung und Sicherheit?
Wer ahnt nach dem letzten, herzzerreißenden Schrei des Gekreuzigten, dass die Geschichte dieses Jesus von Nazareth nicht im Grab für immer endet, sondern neu, ganz neu beginnt am Ostermorgen?
Ostern steckt immer in der Krise. Ostern erwächst immer erst aus Durcheinander und Chaos. Ostern entwickelt sich immer erst aus Bedrohung, Untergang und Tod. Ostern ist Gottes Antwort auf alles, was uns ums Leben bringt.
Gott hat das letzte Wort. Nicht der Tod. Das ist Ostern.
Und deshalb müssen wir gerade in diesen Zeiten Ostern feiern.
Wir können Ostern nicht machen. Ostern ist Gottes Sache. Aber wir können uns all die Geschichten erzählen, die voll Ostern sind. Wir können uns Mut machen mit all den Erfahrungen so vieler Menschen mit diesem Gott, der am Ende sich immer wieder neu als ein Gott des Lebens erweist. Diese Erfahrungen, diese Erzählungen ändern im Augenblick nichts an unserer Situation.
Es ist, wie es ist. Grausam. Zum Verzweifeln. Nicht auszuhalten.
Kiew. Mariupol. Butscha.
All die Schmerzen in den Herzen der Kinder. All die Wunden in den Herzen der Mütter und Väter. All die Verletzung der kriegsgeschundenen Körper und Seelen so vieler Menschen.
Hohn ist Hohn. Verrat ist Verrat. Kreuz ist Kreuz. Hinrichtung ist Hinrichtung. Tod ist Tod.
Aber dürfen wir in dieser Situation verschweigen, dass Gott nicht nur einmal das Blatt der Geschichte gewendet hat?
Dürfen wir verschweigen, dass Gott das Klagen, das Schluchzen und Weinen an sich heranlässt, hört und spürt?
Dürfen wir verschweigen, dass Gott am Ostermorgen den Tod und den Hass dieser Welt ein für allemal in die Schranken gewiesen hat?
Friede sei mit Euch!
Das sind die erste Worte des Auferstandenen. Diese Worte haben sich in die Herzen der Frauen und Männer geprägt, die ihm begegnet sind.
Jesus lebt, mit ihm auch ich! Tod, wo sind nun deine Schrecken!
Ohne diese Melodie im Ohr, ohne diese Worte im Herzen, werden wir lebendig begraben, begraben unter all den furchtbaren Nachrichten und Meldungen, begraben unter all den unerträglichen Leiden und Schmerzen.
Mit den österlichen Erfahrungen so vieler Frauen und Männer damals wie heute werden auch wir auferstehen, aufstehen zu einem neuen, anderen Leben, aufstehen zu einem Leben voll Solidarität und Geschwisterlichkeit, aufstehen zu einem Leben in Frieden und Freiheit für alle, aufstehen zu einem Leben in dem wir über uns hinauswachsen und das werden, was wir sind, Menschen, Kinder Gottes.
Dank der österlichen Erfahrungen haben wir in den letzten beiden Jahren den Aufstand gegen die Corona-Pandemie und all ihren Nebenwirkungen gewagt.
Dank der österlichen Erfahrungen sind so viele von uns über sich hinausgewachsen und haben unvorstellbares geleistet. Wir haben diese Krise sicher noch nicht überwunden.
Aber heute ist es an der Zeit „Danke!“ zu sagen.
Danke für all den Einsatz zum Wohl sovieler Menschen. Danke für all das „Trotzdem!“ auch wenn es nicht immer leicht fiel. Danke für das so wertvolle Miteinander, ganz gleich ob geimpft oder ungeimpft.
Dank der österlichen Erfahrungen haben wir in den letzten Wochen und Monaten den Aufstand gegen den drohenden Völkermord in der Ukraine gewagt, haben Herzen und Grenzen geöffnet, damit Menschen wenigstens nicht auch noch körperlich bedroht werden.
Dank der österlichen Erfahrungen sind wir immer wieder mit Menschen auf dem Weg, Schritt für Schritt gehen wir mit Ihnen, hören ihnen zu, lassen sie ausreden, wie Jesus es mit den beiden Jüngern auf dem Weg nach Emmaus getan hat.
Dank der österlichen Erfahrungen können auch wir dem Leben mehr vertrauen als dem Tod und dem Leben dienen und nicht dem Tod.
Das ist mein Osterwunsch an uns alle: Feiern wir Ostern!
Teilen wir miteinander all die österlichen Erfahrungen, gesammelt im Buch der Bücher, gesammelt in den Herzen der Menschen. Jesus lebt, damit auch wir leben und dem Leben dienen.
Frohe Ostern!
Ihr
Rainer Remmele